Wertheim – Mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) wurde – unabhängig von der neuen Heilmittelrichtlinie 2020 – die Heilmittel-Blankoverordnung eingeführt (§ 125a SGB V). Danach sollen Physiotherapeuten, Ergotherapeuten und Logopäden bei ausgewählten Indikationen über Auswahl, Dauer und Frequenz der Behandlung selbst entscheiden. Diagnose- und Indikationsstellung erfolgt weiterhin durch den Vertragsarzt. Die Einzelheiten hat der Spitzenverband Bund der gesetzlichen Krankenkassen mit den für den jeweiligen Heilmittelbereich verantwortlichen Spitzenorganisationen bis zum 15.03.2021 festzulegen. Aktuell sind diese noch nicht bekannt.
Die „Blankoverordnung“ war – weil aus deren Sicht nicht weitgehend genug – keineswegs von allen Physiotherapieverbänden gewünscht. Deren Verbänden wäre der „Direktzugang“ lieber gewesen, bei dem Patienten den Therapeuten ohne vorgeschaltete ärztliche Verordnung aufsuchen könnten. Wir Orthopäden und Unfallchirurgen schätzen unsere physiotherapeutischen Kooperationspartner bei der Behandlung gemeinsamer Patienten und sind offen für die Blankoverordnung. Zu den eindeutig ärztlichen Aufgaben zählt jedoch, vor jeder Therapie eine Diagnose zu stellen und daran anschließend mit dem Patienten gemeinsam die individuell erforderliche, erfolgversprechende und sichere Therapie zu planen. In diesem Zusammenhang sind Heilmittel nur eine der möglichen und sinnvollen Therapiebausteine aus einem breiten, nur dem Arzt zur Verfügung stehenden, Repertoire. Hierzu zählen neben Heilmitteln auch Gespräch und Beratung, Medikation, Injektionstherapie, komplementäre Verfahren, Operationen u.v.m. Diese Auswahl darf im Patienteninteresse nicht einseitig etwa zugunsten von Heilmitteln erfolgen. Auch ist funktionelle Diagnostik alleine – so gut sie Physiotherapeuten ohne Zweifel leisten können – nicht ausreichend. Denn es gibt einen Unterschied zwischen physiotherapeutischem Befund und ärztlicher Diagnose. Die Diagnosestellung als solche und die patientenindividuelle Auswahl aus dem therapeutischen Repertoire unter Abwägung von Nutzen, Risiken und Wirtschaftlichkeit, ist ureigene ärztliche Kernkompetenz. Der Arztvorbehalt einer Blankoverordnung macht insofern Sinn. Ein Direktzugang ohne vorherige ärztliche Diagnostik hingegen gefährdet potentiell Patienten.
Ein therapeutenseitig öfter erhobener Vorwurf, dass Ärzte Heilmittel im bisherigen System fachlich nicht adäquat auswählen, greift nicht, da die Verordnungsauswahl im GKV-System in erster Linie nicht durch Kompetenzaspekte, sondern durch das enge Regulativ der bestehenden Heilmittelrichtlinie zu verwendende Standardtexte auf Formularen und Regressandrohungen bei Richtgrößenüberschreitungen, geprägt ist. Indikationsstellung, Überwachung, Dokumentation von Verordnungen der physikalischen Therapie, Frühmobilisation und Rehabilitation sind essentieller Ausbildungsbestandteil der MWBO zum Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie. Von 852 Orthopäden, die bei der Arztsuche der KVBW im Jahr 2020 gelistet werden, verfügen darüber hinaus 456 (53%) über die Zusatzbezeichnung „Manuelle Medizin“ und 130 (15%) über die Zusatzbezeichnung Physikalische Therapie. Eine hinreichende Qualifikation liegt somit zumindest bei Fachärzten für Orthopädie und Unfallchirurgie sicher vor.
Im Teilbereich der Heilmittel lassen sich bei bestimmten Indikationen jedoch einzelne Entscheidungen sinnvoll an den Physiotherapeuten abgeben, wie es aktuell bei der neuen Möglichkeit der Blankoverordnung geschieht. Ich denke dabei an ein Eingehen des Therapeuten auf den oft tagesaktuell unterschiedlichen Befund mit einer verlaufsadäquaten Wahl des jeweils geeigneten Therapieverfahrens aus dem breiten physiotherapeutischen Spektrum. Voraussetzung für kompetente Entscheidungen muss dabei eine hinreichende Qualifikation des Therapeuten sein. Diese ist noch näher zu definieren, denn die Mehrzahl der Patienten, die Physiotherapie benötigen, leidet an komplexen Erkrankungen.
Für uns Ärzte sehe ich Vorteile beim Abbau von Bürokratie und möglicher Zeitersparnis. Kritisch sehe ich eine je nach vorgesehener Vergütungsstruktur für die Blankoverordnung zumindest vorstellbare Ausweitung der Behandlungsmengen und der Behandlungskosten je Fall, da Fehlanreize gesetzt werden könnten. Fehlentwicklungen sind je nach Vergütungsstruktur bei der Blankoverordnung auch durch denkbare Rosinenpickerei „angenehmer“, wenig aufwändiger und kostengünstig behandelbarer Patienten vorstellbar. Genauso möglich ist ein für Patienten vielleicht nachteiliger Trend zu möglichst wenig, personalintensiven und apparativen Behandlungen. Der ebenfalls vorstellbare Benefit in Bezug auf das Wohlergehen der Patienten und sich sekundär in anderen Teilbereichen des Gesundheitswesens vielleicht ergebende Einsparungen, müssen unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten dagegen abgewogen und gegengerechnet werden. Dies wird und muss zwangsläufig mit sich bringen, dass Physiotherapeuten in die Verantwortung für die Wirtschaftlichkeit ihrer Behandlung einbezogen werden. Dies nimmt uns Ärzten etwas den Druck, dürfte aber für Physiotherapeuten eine ganz ungewohnte und vielleicht nicht immer leicht lösbare Belastung sein. Keinesfalls kann es sein, dass für Ärzte in deren Verantwortungsbereich weiterhin Budgetierung und entsprechende Kontrolle bei deren Abrechnung und Verordnungen gelten, für Physiotherapeuten jedoch nicht. Wir sind für eine Abschaffung jeglicher Budgets, dann aber selbstverständlich gleichermaßen für alle.
Ein weiterer kritischer Punkt könnten bei fehlgeschlagenen Behandlungen Fragen der juristischen Verantwortung und Haftung sein, die Physiotherapeuten bei mehr Entscheidungsfreiheiten infolge der Blankoverordnung künftig wesentlich stärker treffen als bisher. Solche Fälle sind erfreulicherweise sehr selten, aber letztlich nur eine Frage der Anzahl von behandelten Fällen. Hier erscheint mir eine klare diagnosebezogene Vorgabe wichtig, nach welchem Zeitintervall und beim Auftreten welcher yellow- oder redflags auf jeden Fall wieder eine Vorstellung beim verordnenden Arzt indiziert ist. Zu einer Patientengefährdung durch ausbleibende ärztliche Diagnostik darf es nicht kommen. Allgemein bekannt ist, dass die verordnete und tatsächlich verabreichte Behandlung auch derzeit oft diskrepant ist. Lenkung und Kontrolle von Therapie durch den verordnenden Arzt ist aber nur möglich, wenn auch transparent gemacht wird, wie genau behandelt wurde.
Generell muss auch physiotherapeutische Behandlung evidenzorientierter gestaltet werden. Ziel jedweder Änderungen bei Regelungen zur Verordnung muss immer sein, die Patientenversorgung im gesetzlichen Rahmen bürokratiearm und mit Offenheit für Erweiterungen beim Leistungskatalog zu verbessern. Die Blankoverordnung ist ein Schritt in diese Richtung. Ärzte, Physiotherapeuten und Patienten können so künftig gemeinsam Verantwortung für Patientenwohl und Wirtschaftlichkeit übernehmen. Wünschenswert wäre dabei ein deutlich zeitnäher Zugang für Patienten zu physiotherapeutischen Leistungen als aktuell.
Dr. med. Karsten Braun, LL. M.
Bezirksvorsitzender Heilbronn-Franken
BVOU-Referat Presse