Sommerfeld/Lüneburg – Das Auftreten von Komplikationen und möglichen Behandlungsfehlern ist eine Thematik, die Mediziner, aber auch die Öffentlichkeit immer wieder beschäftigt. Gerade in der Orthopädie und Unfallchirurgie sind die Prävention von und der medizinisch, sowie juristisch korrekte Umgang mit Komplikationen von zentraler Bedeutung. Welche Möglichkeiten das Komplikationsmanagement aktuell bietet und wie wichtig die Kommunikation mit dem Patienten in diesem Kontext ist, diskutieren die norddeutschen Orthopäden und Unfallchirurgen bei ihrer 64. Jahrestagung vom 16. bis 18. Juni in Hamburg. BVOU.net sprach vorab mit den beiden Tagungspräsidenten, Prof. Dr. med. Andreas M. Halder, Chefarzt der Klinik für operative Orthopädie und Ärztlicher Direktor der Sana Kliniken Sommerfeld, und Dr. med. Jörg Cramer, Chefarzt der Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie des Klinikums Lüneburg, über die Inhalte des Kongresses.
BVOU.net: Der diesjährige Kongress der Norddeutschen Orthopäden- und Unfallchirurgenvereinigung (NOUV) setzt sich mit dem „Management von Komplikationen in Orthopädie und Traumatologie“ auseinander. Warum haben Sie dieses Leitthema gewählt?
Prof. Dr. med. Andreas M. Halder: Komplikationen in Orthopädie und Unfallchirurgie geraten immer häufiger in die Schlagzeilen und werden in der Laienpresse leider nicht immer sachlich diskutiert. Deshalb haben wir als Behandler und neben dem Patienten direkt Betroffene dieses Thema für den Kongress gewählt, um die Problematik fachlich und sachlich zu diskutieren.
Dr. med. Jörg Cramer: Der Umgang mit und die Verhütung von unerwünschten Behandlungsergebnissen und Komplikationen sind das Kernthema der Orthopädie und Unfallchirurgie. Wir beschäftigen uns mit plötzlich schicksalhaft auftretenden Unfallfolgen ebenso, wie mit Patienten, deren Leiden die Lebensqualität einschneidend beeinträchtigen. Hier gehen wir als behandelnde Ärzte eine besondere Verantwortung bei der Beratung und der Umsetzung eines Therapieplanes ein. Gerade deshalb ist die Auseinandersetzung mit diesem Thema so wichtig.
In den Behandlungsfehlerstatistiken der letzten Jahre liegen O und U bei der Zahl der Vorwürfe wiederholt an vorderster Stelle. Welche Ursachen sehen Sie dafür?
Cramer: Unser Fachgebiet ist in der Tat seit Jahren – gerade seit der Zusammenführung der Fächer Orthopädie und Unfallchirurgie – hinsichtlich der Behandlungsfehlervorwürfe an erster Stelle. Allerdings ist die prozentuale Zahl bestätigter Fehler mit 26,6 Prozent niedriger als in anderen Fächern. Ein Grund für die hohe Zahl der Vorwürfe liegt wohl darin zu suchen, dass bei den Patienten oftmals falsche Erwartungen bestehen.
Halder: In der Orthopädie behandeln wir Patienten mit Erkrankungen, die primär nicht lebensbedrohlich sind, jedoch zu einer Einschränkung der Lebensqualität führen. Wir Orthopäden versuchen nun diese Lebensqualität bestmöglich wiederherzustellen. Aber natürlich kann zum Beispiel ein künstliches Kniegelenk nie genauso gut funktionieren, wie das gesunde Gelenk des Patienten im Alter von 18 Jahren. Und doch erwarten viele Patienten nach der Behandlung eine vollständige Schmerzfreiheit und Beweglichkeit. In der Unfallchirurgie haben wir primär gesunde Patienten, die eine Verletzung oder einen hochdramatischen Unfall erleiden und vom Unfallchirurgen ebenso erwarten, dass durch die Wiederherstellung eine volle Genesung eintritt. Doch auch das ist nicht immer möglich, wenn Gelenke oder Knochen teils irreparabel zerstört wurden. Wenn die Wiederherstellung dann nicht so gut gelingt oder gar dauerhafte Belastungs- oder Bewegungsdefizite zurückbleiben, wird schnell der Schluss getroffen, dass es ja nur an der nicht ausreichenden Behandlung liegen könne.
Cramer: In der Orthopädie und Unfallchirurgie liegt darüber hinaus das Ergebnis fast immer „auf der Hand“. Röntgenbilder spiegeln gute und schlechte Behandlungsergebnisse gnadenlos wieder. Deshalb ist es wichtig, dem Patienten im Vorfeld einer Behandlung nicht nur mitzuteilen, welche Möglichkeiten es gibt, sondern auch, wie der Erwartungshorizont aussieht. Zudem ist es immer geboten – allein schon von Rechts wegen – den Patienten über mögliche Komplikationen aufzuklären. Gleichzeitig können wir uns, bei aller gebotenen und möglichen Aufklärung und Einbindung unserer Patienten, nicht vor der endgültigen Entscheidung drücken, einen Behandlungsweg zu gehen und eine solche Entscheidung kann auch einmal falsch sein. In einem solchen Fall helfen nur der offene Umgang und das Gespräch mit dem Patienten.
Wie möchte der NOUV-Kongress zur produktiven Diskussion und Prävention von Komplikationen beitragen und welche Programmpunkte wird es dazu geben?
Halder: Für die Auseinandersetzung mit unserem Leitthema haben wir uns drei Schwerpunkte gesetzt. Zum einen wäre da der medizinisch-inhaltliche Schwerpunkt: Welche typischen Komplikationen gibt es und was tun wir, wenn diese auftreten? Der zweite Schwerpunkt ist die Kommunikation: Wie kann ich eine gute Verbindung mit meinem Patienten halten und mit ihm über Komplikationen sprechen? Was können beide Seiten tun, um die Komplikation bestmöglich zu managen? Der dritte Schwerpunkt ist der juristische: Was kann der Behandler tun, um eine Komplikation juristisch korrekt zu behandeln? Welche Rechte und Pflichten hat der Patient im Falle einer Komplikation?
Cramer: Im medizinisch-inhaltlichen Bereich haben wir anatomisch orientiert zum Thema Schulter, Hüfte, Knie und Wirbelsäule verschiedene Themenkomplexe zusammengestellt. Unterstützt haben uns hierbei vor allem die entsprechenden Fachgesellschaften. Wir konnten in den einzelnen Bereichen führende Kollegen gewinnen, die die typischen Komplikationen und deren Behandlung sowie die etablierten Strategien zur Komplikationsvermeidung, die sogenannten Goldstandards, darlegen werden. Am Samstag werden wir uns mit verschiedenen Aspekten der Kommunikation mit Patienten, aber auch mit Kostenträgern und der Öffentlichkeitsarbeit beschäftigen. Hinzu kommen Vorträge zur korrekten Dokumentation und Reaktion auf Komplikationen sowie zur rechtsfesten Aufklärung. Dafür haben wir hochrangige Vertreter des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen, der Schlichtungsstelle der Norddeutschen Ärztekammern und eines Haftpflichtversicherers zu Gast.
Häufig steht die operative Therapie beim Komplikationsmanagement etwas mehr im Vordergrund. Welchen Anteil wird die konservative Therapie innerhalb des Kongressprogramms haben?
Halder: Zum einen gibt es die Schnittstellenproblematik zwischen operativer und konservativer Therapie. Führt man beispielsweise eine konservative Therapie eines Bruches oder eines Bandscheibenvorfalles zu lange fort oder unterschätzt eine eigentlich OP-bedürftige Infektion, so kann dies zu Komplikationen führen. Indiziert man eine chirurgische Therapie dagegen zu früh ohne den konservativen Ansatz ausgereizt zu haben, können natürlich auch hier Komplikationen auftreten. Die richtige Abwägung zwischen konservativ möglich und operativ notwendig spielt daher in unserem Alltag eine große Rolle und wird auch im Rahmen des Kongresses thematisiert werden. Außerdem ist die konservative Therapie potenziell ebenso fehleranfällig wie die operative Behandlung: man denke an die unzureichende Gipsbehandlung von Frakturen, das Unterlassen einer funktionellen Nachbehandlung nach einer Gelenkverletzung oder das Auftreten von Thrombosen aufgrund der Immobilisation eines Bruches im Gips. Diese Komplikationen der konservativen Therapie werden in der Darstellung der einzelnen Körperregionen mit behandelt werden.
Am ersten Kongresstag widmen Sie sich unter anderem dem Nachwuchs mit einem besonderen Kurs- und Symposiumsangebot für Assistenzärzte. Welche Bedeutung hat die Nachwuchsförderung in O und U und was können die Teilnehmer hier inhaltlich erwarten?
Cramer: Die Förderung junger Kollegen ist für die Weiterentwicklung unseres Fachgebietes von essentieller Bedeutung. Wir müssen nicht nur junge Kollegen gewinnen, unsere Fachrichtung einzuschlagen, sondern wir müssen sie auch motivieren, sich in dem Gebiet weiterzuentwickeln. Hier muss man sehen, dass wissenschaftliche Tagungen meist eher in den High-End-Bereich zielen, also die Spitze der wissenschaftlichen Entwicklung abbilden. Das wollen wir natürlich auch, aber die Bedürfnisse und Erwartungen in den ersten Jahren der Weiterbildung sind vor allem auch auf die Bewältigung von Problemen im klinischen Alltag gerichtet. Genau dorthin zielt unser Angebot. Es geht thematisch sowohl um das Management perioperativer Probleme wie Delir oder Thrombose, als auch um Tipps und Trick bei ausgewählten Operationen.
Einer der Hauptprogrammpunkte am zweiten Kongresstag ist das Forum der Deutschen Gesellschaft für Endoprothetik (AE). Welche Themen werden hier im Mittelpunkt stehen und welche aktuellen Entwicklungen gibt es im Bereich der Endoprothetik?
Cramer: Eines der Themen der AE lautet „Risikoadaptierte Infektionsprävention“. Dabei geht es um diagnostische Maßnahmen und darum, was getan werden kann, um einen Eingriff besonders sicher zu gestalten, aber auch darum, was im Falle einer Infektion getan werden kann. Ein weiterer Themenblock wird sich mit der Individualprothetik befassen. Im Bereich individualisierter Prothesen und patientenspezifischer Instrumente gibt es mittlerweile zahlreiche Angebote. Es stellt sich allerdings die Frage, ob dies ein Pfad ist, der sich unter ökonomischen und auch medizinischen Gesichtspunkten weiterverfolgen lässt. So wird dieser Themenblock vor allem den Sinn und Nutzen von Individualprothesen vor dem Hintergrund des Mehraufwands und der Mehrkosten hinterfragen.
Was erhoffen Sie sich als Tagungspräsidenten von der 64. Jahrestagung der NOUV?
Halder: Ich erhoffe mir eine offene, transparente Diskussion über das Thema Komplikationen. Ich persönlich habe den Eindruck, dass es zwei ungünstige Entwicklungen in diesem Bereich gibt. Zum einen werden Komplikationen in der Öffentlichkeit oft dramatisiert und der Arzt wird als Pfuscher unter Generalverdacht gestellt. Hier wird schnell eine Vorverurteilung vorgenommen ohne genauer hinzuschauen. Auf der anderen Seite gibt es allerdings von Seiten der Behandler die Tendenz, zu sagen: „Komplikationen, die haben wir nicht, da sprechen wir nicht darüber.“ Denn oftmals wird der Arzt immer noch als gottgleicher Held dargestellt, dem nie ein Fehler unterläuft. So sieht sich der tatsächliche Arzt dann oft in dieser Position und denkt, dass er nicht zugeben kann, wenn ihm ein Fehler passiert oder eine unvorhergesehene Komplikation auftritt. Ich glaube, wir müssen von beidem wegkommen: einerseits von der Vorverurteilung und andererseits davon, Dinge nicht offen zu besprechen – vor allem mit dem Patienten. Wir müssen das Thema einfach ansprechen, denn Komplikationen können immer auftreten, seien sie schicksalhaft oder fehlerbedingt. Wenn der Kongress dazu beiträgt, diese transparente Diskussion zu fördern, dann ist schon viel erreicht.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Anne Faulmann.
Bild:
Die Tagungspräsidenten des diesjährigen NOUV-Kongresses: Prof. Dr. med. Andreas M. Halder (links) und Dr. med. Jörg Cramer (Quelle: privat)