Bielefeld – Werdenden Eltern wird das Pucken in Geburtsvorbereitungskursen häufig empfohlen, um ihr Baby sanft zum Schlafen zu bringen. Aktuelle Literatur weist jedoch darauf hin, dass die Wickelmethode zu einer Hüftdysplasie führen kann. Im Gespräch mit BVOU.net erklärt Dr. Tamara Seidl, Oberärztin an der Klinik für Unfallchirurgie, Orthopädie, Wirbelsäulenchirurgie im Franziskus Hospital Bielefeld und Mitglied in der Deutschen Gesellschaft für Ultraschall in der Medizin (DEGUM), weshalb das klassische Einwickeln umstritten ist und welche körperschonenden Alternativen es gibt.
BVOU.net: Frau Dr. Seidl, um angeborene Hüftdysplasien frühzeitig zu erkennen und zu behandeln, werden Säuglinge seit 1996 per Ultraschall auf Unregelmäßigkeiten untersucht. Die Screenings erfolgen zwischen der vierten und fünften Lebenswoche, bei genetisch vorbelasteten oder aus Beckenendlage geborenen Kindern auch früher. Die Zahl der Kinder, die aufgrund einer Hüftdysplasie operiert werden mussten, ist seitdem signifikant gesunken. Die DEGUM weist nun auf einen Zusammenhang zwischen nach dem Screening diagnostizierten Hüftdysplasien und dem sogenannten Pucken hin. Worauf stützt sich diese Aussage?
Dr. Tamara Seidl: Es gibt mittlerweile zwei gute Studien, die das Pucken als statistisch signifikanten Risikofaktor für die Entstehung einer Hüftdysplasie ausgemacht haben. Dogruel et al. konnten in einer 2008 in der Zeitschrift International Orthopaedics veröffentlichten Studie zeigen, dass das Pucken der Hauptrisikofaktor ist für den Nachweis einer Hüftdysplasie mittels Ultraschalluntersuchung nach Graf – weit vor den „klassischen“ und bekannten Risikofaktoren positive Familienanamnese oder Geburt aus Beckenendlage. Darüber hinaus konnten Mulpuri et al. in einer 2016 in der Zeitschrift Clinical Orthopaedics and Related Research erschienenen Multi-Center-Studie zeigen, dass die einzigen zwei Risikofaktoren für die verspätete Erstdiagnose einer Hüftluxation – also dem Feststellen eines ausgerenkten Hüftgelenks nach dem dritten Lebensmonat – die Geburt aus Schädellage und das Pucken sind.
Was genau passiert beim Pucken mit der Hüfte?
Dr. Tamara Seidl: Beim klassischen Pucken werden die Babys eng in Tücher eingewickelt. Dabei werden die Beinchen in Streckstellung und leichter Adduktion aneinandergebunden. Durch diese für Neugeborene unphysiologische Stellung wirken auf die Wachstumsfuge an der Gelenkpfanne Scherkräfte, die im schlimmsten Fall zu einem Wachstumsstopp führen. Wächst der Hüftkopf weiter, die Pfanne jedoch nicht, kommt es zu einem Missverhältnis – die Gelenkpfanne ist im Verhältnis zum Kopf zu klein, eine Hüftdysplasie ist entstanden.
Wie bekannt ist die Thematik unter Orthopäden und Kinderärzten in Deutschland?
Dr. Tamara Seidl: Nachdem mittlerweile unter Orthopäden, Kinderorthopäden und Kinderärzten immer bekannter wird, dass das Pucken hierzulande seit geraumer Zeit in der Säuglingspflege ein Revival erfährt und bereits aus Tierversuchen aus den 70er Jahren bekannt ist, dass eine Fixation des Kniegelenks in Streckstellung zum Ausrenken des Hüftgelenks führen kann, wird das Problem in diesen Fachkreisen immer populärer.
Hierzulande gibt es das Revival des Puckens, in Japan und in der Türkei hingegen sollen Aufklärungskampagnen Eltern von der Methode abbringen. Wie sollte man in Deutschland vorgehen und welche Berufsgruppen sollten in die Aufklärung einbezogen werden?
Dr. Tamara Seidl: Aus kinderorthopädischer Sicht muss man ausschließlich vor dem klassischen Pucken warnen, das z.B. in Japan und der Türkei traditionell durchgeführt und mittlerweile von Staatswegen zur Reduktion der Häufigkeit von Hüftreifungsstörungen u.a. mit Aufklärungskampagnen „bekämpft“ wird. Hebammen, Säuglingsschwestern, Kinderärzte und Orthopäden muss dies bewusst sein.
Raten Sie grundsätzlich vom Pucken ab oder ist es Maßen vertretbar?
Dr. Tamara Seidl: Wir raten aus den genannten Gründen grundsätzlich vom klassischen Pucken ab. Aus kinderorthopädischer Sicht spricht jedoch nichts gegen die Verwendung von Pucksäcken, in denen die Babys ihre Beinchen frei bewegen können und Eltern beispielsweise durch das Unterlegen einer Handtuchrolle unter die Beinchen eine Lagerung der Beinchen in Sitz-Hock-Stellung erreichen können. In dieser Sitz-Hock-Stellung kommt es zu einem optimalen Wachstum des gesamten Hüftgelenks.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Yvonne Bachmann.
Bilder: Studien haben gezeigt, dass das klassische Pucken von Babys (links) zu einer Hüftdysplasie führen kann. Oberärztin Dr. Tamara Seidl (rechts) rät deshalb dazu, Pucksäcke zu nutzen, in denen die Kinder mehr Beinfreiheit haben. (Quellen: Ramona Heim, Shutterstock; privat)