Berlin – Der Gesetzentwurf zur Stärkung der Heil- und Hilfsmittelverordnung wird von den im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien unterschiedlich bewertet. Das zeigte sich an den Reden der Parlamentarier anlässlich der ersten Lesung am 10. November. Um sie nicht im Morgengrauen halten zu müssen angesichts der überlangen Tagesordnung, wurden sie allerdings zu Protokoll gegeben. Ein Teil der Parlamentarier ging ausführlicher auf die sogenannte Blankoverordnung ein.
Dr. Roy Kühne, CDU-Abgeordneter und selbst Physiotherapeut, betonte, das geplante Modellvorhaben Blankoverordnung sei „genau der richtige Weg zu einem kompetenzorientierten Gesundheitssystem. Ziel ist es, dem Therapeuten die Versorgungsverantwortung zu übertragen, indem er Auswahl und Dauer der Therapie sowie die Frequenz der Behandlungseinheiten selbst bestimmen kann“. Der Sprecher seiner Fraktion für den Bereich der Heil- und Hilfsmittel ergänzte, die Heilmittelerbringer stünden unter großem Druck: „Hohe Schulgeldkosten und geringe Verdienstaussichten dünnen die Berufsgruppen zunehmend aus.“
Kühne: Ärzten ist Grundlohnentkoppelung bereits geglückt
Dass sich das Honorarvolumen für Heilmittelerbringer zukünftig nicht mehr an der Grundlohnsumme orientieren soll, hält Kühne für einen Fortschritt: „Ärzte und Zahnärzte haben es längst geschafft, die Entkoppelung zu erreichen, nun sind endlich auch die therapeutischen Gesundheitsberufe an der Reihe.“ Die neue Befristung der Regelung auf drei Jahre kritisierte er allerdings.
Birgit Wöllert, Sprecherin der Fraktion Die Linke für Gesundheitsberufe, betonte, das Anliegen des Gesetzes begrüße man grundsätzlich. Es werde sich aber daran messen lassen müssen, ob es tatsächlich Verbesserungen bringe. Mehr Kompetenzen für Therapeutinnen und Therapeuten seien notwendig: „Es ist nur richtig, dass Expertinnen und Experten auf ihrem Gebiet die richtige Behandlung auf Basis der ärztlichen Diagnose selbst bestimmen.“ Enttäuschend sei, dass der Direktzugang beispielsweise zur Physiotherapie überhaupt nicht angegangen werde.
Scharfenberg: Entwurf ist noch zu zögerlich
Man achte die Kompetenzen der Heilberufler gering, kritisierte auch Elisabeth Scharfenberg, Bündnis 90/ Die Grünen. Der Gesetzentwurf sei noch „viel zu zögerlich“: „Wir wollen, dass die Blankoverordnung zügig in die Regelversorgung überführt wird. Darüber hinaus fordern wir Modellprojekte zum Direktzugang für Heilmittelerbringer.“
Die Grünen-Fraktion hatte einen eigenen Antrag mit dem Titel „Versorgung verbessern – Kompetenzen von Hilfsmittelversorgern ausbauen“ ins Parlament eingebracht. Sie spricht sich dafür aus, Vertragsärztinnen und -ärzten die Diagnosestellung und Behandlungsverordnung zu überlassen, den Heilmittelerbringern aber die Wahl der geeigneten Therapiemethode. Aber: Eine „enge und abgestimmte Zusammenarbeit der Berufsgruppen“ sei „für eine hohe Versorgungsqualität der Patientinnen und Patienten ausschlaggebend“.
Frühe Kritik von BVOU und DGOU
BVOU und DGOU hatten bereits Anfang 2015 ein Positionspapier der CDU-CSU-Fraktion zur Reform der Heil-Hilfsmittel-Versorgung in einer gemeinsamen Pressemitteilung kritisiert. „Die Therapie beginnt mit der Diagnose. Die Stellung einer Diagnose ist eine ärztliche Kernkompetenz und steht damit bisher unter dem sogenannten Arztvorbehalt. Für physiotherapeutische Behandlungen darf der Weg des Patienten am Arzt nicht vorbeiführen“, sagte DGOU-Generalsekretär Professor Bernd Kladny. Der stellvertretende DGOU-Generalsekretär Professor Reinhard Hoffmann ergänzte: „Wenn bisher unbestrittene ärztliche Kernkompetenz durch andere Heilberufe ersetzt wird, handelt es sich um einen Dammbruch mit nicht absehbaren Folgen für die Qualität und Sicherheit der Gesundheitsversorgung.“
Und weiter: „Hauptargumente für die geplante Diagnose- und Therapieverantwortung durch Physiotherapeuten sind angebliche Einsparpotenziale und die Vermeidung von Versorgungsengpässen durch steigende Patientenzahlen. DGOU und BVOU stellen infrage, ob diese offensichtlich wirtschaftlichen Überlegungen derart gravierende strukturelle Änderungen der Versorgungslandschaft rechtfertigen.
Die beiden Fachverbände für Orthopädie und Unfallchirurgie befürchten zudem einen Anstieg von Fehlbehandlungen sowie den Aufbau von Doppelstrukturen und Intransparenz. „Wir vermissen zudem eine Aussage zur Finanzierung des geplanten Vorhabens. Es tun sich zahlreiche ungeklärte Fragen hinsichtlich einer juristischen Verantwortung sowie einer budgetären Abbildung eigenständig agierender Physiotherapeuten auf“, sagte BVOU-Präsident Dr. Johannes Flechtenmacher.“
Expertenanhörung am 30. November im Bundestag
Der aktuelle Gesetzentwurf wird am 30. November im Rahmen einer öffentlichen Anhörung des Gesundheitsausschusses des Bundestags mit Experten diskutiert. Mit dem Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetz plant die Bundesregierung, allen Heilmittelerbringern wie Physiotherapeuten und Ergotherapeuten in Modellvorhaben flächendeckend die Möglichkeit einzuräumen, selbstständiger als bisher über eine Therapieform und ihre Dauer zu entscheiden. Dazu soll es flächendeckend Modellvorhaben geben.
Der Gesetzentwurf zur Stärkung der Heil- und Hilfsmittelversorgung sieht über die Regelung zu flächendeckenden Modellvorhaben unter anderem Folgendes vor:
- Das System der Preisfindung im Heilmittelbereich wird weiter flexibilisiert. Dafür wird der Grundsatz der Beitragssatzstabilität aufgehoben.
- Qualitätsaspekte sind bei der Hilfsmittelversorgung stärker zu berücksichtigen. Bei der Beurteilung der Wirtschaftlichkeit im Rahmen von Ausschreibungen zu Hilfsmitteln sind neben dem Preis zu mindestens 40 Prozent Kriterien wie zum Beispiel Qualität, Zweckmäßigkeit, Kundendienst oder Betriebskosten heranzuziehen.
- Schiedsverfahren sollen beschleunigt werden, Vergütungserhöhungen schneller bei den Heilmittelerbringern ankommen.
- Der GKV-Spitzenverband muss bis 2019 Produktgruppen des Hilfsmittelverzeichnisses, die seit 30.6.2015 nicht mehr grundlegend aktualisiert wurden, systematisch analysieren und anpassen. Außerdem muss er bis 2018 grundsätzlich regeln, wie Hilfsmittel in das Hilfsmittelverzeichnis aufgenommen werden und dieses fortgeschrieben wird.
- Die Krankenkassen werden verpflichtet, die Leistungserbringung bei Verträgen zur Hilfsmittelversorgung konsequenter als bisher zu prüfen und zu überwachen.
- Beratungs- und Informationsrechte der Versicherten sollen gestärkt werden.