Erfurt – „Rund drei Milliarden Euro – mit dieser Summe stehen die Krankenkassen bei den niedergelassenen Ärzten allein für das vergangene Jahr in der Kreide“. Diese Rechnung präsentierte der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Dr. Andreas Gassen, am Montag vor der Vertreterversammlung der KBV im Vorfeld des Deutschen Ärztetages. Weil in der gesetzlichen Krankenversicherung ein beträchtlicher Teil der ärztlichen Arbeit nicht bezahlt werde, säßen die Kassen heute auf einem Finanzpolster von 31 Milliarden Euro.
„Die Rücklagen der Kassen wachsen von Monat zu Monat, der Gesundheitsminister plant deshalb ein Gesetz, das die Kassen zwingt, die Beiträge zu senken. Besser wäre aber, das Geld dafür zu verwenden, wofür es die Versicherten gezahlt haben – für die Versorgung! Beenden Sie die Zechprellerei der Kassen, Herr Minister Spahn!“, forderte Gassen. An alle Politiker richtete er den Appell: „Kommen Sie Ihrer Pflicht nach! Helfen Sie den Patienten, indem Sie uns endlich für unsere Leistung bei den Patienten bezahlen.“
Paradigmenwechsel zur Konsummedizin
Der KBV-Vorstandsvorsitzende sprach von einem „klammheimlich vollzogenen Paradigmenwechsel“ der Politik. Bislang sei gesetzlich festgeschrieben, dass medizinische Leistungen wirtschaftlich und nur in medizinisch angemessenem Umfang erbracht werden sollen. Aus diesem Grund sei zu Beginn der Neunzigerjahre die Budgetierung und damit Quotierung ärztlicher Leistungen eingeführt worden. Jetzt aber würden die Regierungsparteien den Patienten laut Koalitionsvertrag mehr versprechen: „Mehr Termine, schnellere Termine, ortsnahe Termine und am besten Ansprechpartner aller Fachrichtungen 24/7. Damit kommen wir aber weg vom Budgetsystem hin zu einem nachfrageorientierten Konsumsystem“, verdeutlichte Gassen. Wenn aber künftig die Nachfrage nach Leistungen das Angebot bestimmen solle, dann sei eine Entbudgetierung die einzig logische Schlussfolgerung.
Auf die Kritik reagierte der GKV-Spitzenverband gestern mit einer Positionierung. Johann-Magnus von Stackelberg, stellvertretender Vorstandsvorsitzender, erklärte, niedergelassene Ärzte müssten nach geltender Rechtslage mindestens 20 Stunden in der Woche Sprechstunden anbieten. „Und wenn zur Umsetzung ihres gesetzlichen Auftrags 20 Stunden Sprechstunden nicht reichen, dann müssen sie entsprechend einen größeren Anteil ihrer Arbeitszeit für Sprechstunden reservieren.“ Dies sei bei nahezu allen Ärzten seit langem gelebter Alltag. „Diese Schwerpunktsetzung auf Sprechzeiten führt jedoch nicht zu einer Ausweitung der Arbeitszeit. Entsprechend ist auch keine zusätzliche Vergütung notwendig“, ergänzte von Stackelberg. Verklausuliert greift der GKV-Spitzenverband damit ein Thema auf, das er und einzelne Krankenkassen in den zurückliegenden Jahren immer wieder angeschnitten haben. Sie behaupten, dass niedergelassene Ärztinnen und Ärzte, besonders in einzelnen Fachgruppen, ihre Sprechzeiten für Kassenpatienten reduzieren und lieber Privatpatienten behandeln.
Kritik an TI-Anbindung
Kritische Worte fand KBV-Vorstand Dr. Thomas Kriedel zur schleppenden Telematikinfrastruktur(TI)-Anbindung der Praxen, dem unzulänglichen Angebot an Hardware und dem Unwillen der Krankenkassen, die Finanzierungsregelungen nachzubessern. Die VV fasste einen Beschluss, mit dem die Politik aufgefordert wird, Praxissanktionen wegen des unvollständigen Anschlusses an die TI mindestens bis 30. Juni 2019 auszusetzen. Die GKV soll mit der KBV zudem sofort eine Finanzierungsvereinbarung mit Wirkung bis zum Ende 2018 schließen. Nach Angaben von Kriedel sind derzeit 15.000 Praxen an die TI angeschlossen.