Die Versorgung des wegweisenden Selektivvertrags startete im ersten Quartal 2014. Vertragspartner waren der BVOU, der BNC, der MEDIVERBUND, die AOK Baden-Württemberg und die Bosch BKK. Ihr gemeinsames Ziel war und ist eine bessere und nachhaltige Alternative zur Regelversorgung. Wir haben nachgefragt bei Dr. Burkhard Lembeck, Präsident des BVOU und Vertragsteilnehmer.
Die Schwächen der Regelversorgung zu beseitigen. Inwieweit ist das gelungen?
Dr. Burkhardt Lembeck: Das funktioniert mit einem auf die regionalen Bedürfnisse abgestimmten Vollversorgungsvertrag und mit Partnern, die am gleichen Strang ziehen. Der Vertrag ist vor allem auf eine verbesserte Versorgung bei orthopädischen Schwerpunktdiagnosen ausgelegt mit Spielräumen für eine zeitintensive und ganzheitliche Versorgung. Dazu zählen insbesondere eine umfassende biopsychosoziale Anamnese mit eingehender Beratung. Darüber hinaus ein gezielter Einsatz von apparativer Diagnostik und Therapiemaßnahmen, die Förderung der Eigeninitiative der Patienten, die Vermeidung unnötiger stationärer Behandlungen, eine rationale Pharmakotherapie, strukturierte Qualitätszirkel und eine bessere Koordination mit den Ärzten im Hausarztvertrag. Und last but not least ein angemessenes Honorar. Die nach wie vor hohe ärztliche Teilnehmerzahl bestätigt, dass der mit dem Facharztvertrag eingeschlagene Weg richtig ist.
Wie unterschiedet sich die Honorierung von der Regelversorgung?
Dr. Lembeck: Der Facharztvertrag beinhaltet eine feste Vergütung aller Fälle und vereinbarten Leistungen ohne Fallzahl- oder Mengenbegrenzungen, auch wenn die Patienten mehrfach behandelt werden müssen. Das gibt wirtschaftliche Planungssicherheit. Im KV-System profitiert man vor allem mit vielen möglichst gesunden Patienten, die nur einmal im Quartal kommen, außerdem gibt es eine Budgetierung des Honorars. Im Vertrag gibt es einen überschaubaren Mix aus Pauschal- und Einzelleistungsvergütungen sowie Qualitätszuschlägen. So ergibt sich ein deutlich über der Regelversorgung liegender durchschnittlicher Behandlungsfallwert, der auch die vertraglichen Anforderungen und Zusatzleistungen der Praxen beinhaltet.
Können Sie Beispiele für die bessere Versorgung im Praxisalltag nennen?
Dr. Lembeck: Wichtig ist vor allem, dass wir mehr Zeit haben, um unsere Patienten gründlich zu untersuchen, aufzuklären, und auf ihre Fragen einzugehen. Dazu zählen etwa Informationen und Motivation zu spezifischen Bewegungsübungen, zur gesunden Ernährung oder zu Verhaltensänderungen, ergänzend zu den Therapiemaßnahmen. Auch das ambulante Operieren wird gefördert, was uns auch wegen der teilnehmenden Chirurgen wichtig war. Außerdem übernehmen in den teilnehmenden Praxen fast 200 Entlastungsassistentinnen in der Facharztpraxis (EFA®) vielfältige Aufgaben und tragen so zur Verbesserung der Patientenversorgung bei. Bei Patienten mit unspezifischen Rückenschmerzen spielen oftmals auch psychosoziale Belastungen eine Rolle. Hier können wir bei Bedarf den Sozialen Dienst der AOK bzw. die Patientenbegleiter der Bosch BKK einbeziehen. Zudem können wir zur Stärkung der Eigeninitiative indikationsspezifische Angebote veranlassen wie etwa das AOK-RückenKonzept, das Tübinger Knie- und Hüftprogramm, Präventionskurse der Bosch BKK oder bei Sportverletzungen das rehabilitative Programm AOK-Sports.
Welche Untersuchungen gibt es zur Versorgung und zur Patientenzufriedenheit?
Dr. Lembeck: Die Hausarztzentrierte Versorgung (HZV) wird seit Beginn im Jahr 2008 regelmäßig evaluiert. Dabei wird auch der Zusatznutzen der Facharztverträge untersucht. Bei Patienten mit unspezifischen Rückenschmerzen stellten sich bereits frühzeitig Vorteile in der Facharztvertragsgruppe heraus. Dazu zählten etwa die Reduktion von CT und MRT bei Patienten mit unspezifischem Rückenschmerz in den ersten sechs Wochen nach Diagnosestellung, weniger AU-Tage und eine geringere Hospitalisierungsrate. Außerdem zeigen regelmäßige interne Controlling-Berichte eines unabhängigen Instituts signifikant bessere Ergebnisse als in der Regelversorgung, z.B. im NSAR-Verbrauch. Außerdem führt das Prognos-Institut für die AOK regelmäßig Befragungen bei Teilnehmern am Haus- und Facharztprogramm durch. Hier liegen die Zufriedenheits- und Weiter-empfehlungswerte bei rund 90%. Aus eigenen Befragungen wissen wir, dass bei Patienten hinsichtlich ihrer Versorgung die Zufriedenheit der Arztberatung den größten Einfluss auf die Gesamtzufriedenheit hat. Die Patienten schätzen auch den Wegfall der Zuzahlung bei vielen rabattierten Medikamenten und die schnelleren Facharzttermine. Und der wichtigste Teilnahmegrund ist die bessere Koordination durch den Hausarzt (95%).
Wie schätzen Sie Letzteres ein?
Dr. Lembeck: Dank der Vereinbarungen ist die Kommunikation zwischen Hausärzten und Fachärzten In der Tat verbindlicher, intensiver und strukturierter geworden. Das hängt wie immer auch von den persönlichen Beziehungen ab. Die Verbindlichkeit zeigt sich etwa bei den unkoordinierten Facharztkontakten ohne Überweisung. Diese Zahl lag im Jahr 2020 laut aktuellster Evaluation um fast zwei Millionen niedriger als in der Regelversorgung. Geregelt ist, wann der Hausarzt überweist und dabei eine Befunddokumentation übermittelt. Im Gegenzug bekommt er schnell einen aussagefähigen Bericht zur Diagnose und weiterführenden Therapievorschlägen. Ein wesentliches Element in den Selektivverträgen sind die leitlinienorientierte Behandlung und festgelegte Therapiepfade der Fachärzte. Dabei gehören Wiedereinbestellungsintervalle, um den Hausarzt in seiner Koordinatorfunktion zu unterstützten. Bei besonderen Fällen können wir auch Fallkonferenzen mit dem Hausarzt und/oder dem Psychologen organisieren. Eine zentrale Schnittstelle ist zudem das Arzneimittelmodul in der Vertragssoftware. Hier werden identische Grundsätze einer rationalen Pharmakotherapie abgebildet, was zur Harmonisierung der Arzneiverordnungen beiträgt. Die bessere ambulante Versorgungssteuerung und intensivere Betreuung bewirkt auch, dass es weniger Klinikaufnahmen gibt und stationäre Kosten verringert werden.
Wo sehen Sie noch Verbesserungs- und Weiterentwicklungsbedarf im Facharztvertrag?
Dr. Lembeck: Der Facharztvertrag ist ein lernendes System. Beispiele hierfür sind die Erweiterung des Orthopädievertrags um das Rheumamodul im Jahr 2018 oder die Einbindung von Digitalisierungsmaßnahmen, wie die elektronische Arztvernetzung (eAV). Die Vertragspartner haben hier eine Vorreiterrolle eingenommen, weil in der gematik jahrelang wenig passiert ist. Mit der eAV wurden verschiedene Anwendungen wie die elektronische AU-Meldung und eArztbrief vorangetrieben. Mit dem im Januar gestarteten, für Ärzte kostenlosen, Messenger garrioCOM schlagen wir wieder ein neues IT-Kapitel auf. Wir wollen hiermit eine sichere und zeitsparende Kommunikation zwischen Arztpraxis und Patienten und zwischen Arzt und Arzt erreichen. Der Messenger soll zukünftig auch die Teilnahme weiterer Einrichtungen ermöglichen. So ist etwa die Beteiligung der AOK bei der Umsetzung von Reha- und Präventionsmaßnahmen vorstellbar. Mittlerweile gibt es 8 Facharztverträge für 3 Facharztgruppen mit über 3.200 teilnehmenden Ärzten und Psychotherapeuten, was bemerkenswert ist. Leider wird es aber immer mehr zum Problem, bei bestimmten Gruppen, wie etwa den Gynäkologen, zeitnahe Termine zu bekommen. Daher wäre es sehr erstrebenswert, diese zukünftig auch in das Facharztprogramm zu integrieren – am besten mit Vollversorgungsverträgen.
Bedauerlich ist auch, dass es bisher nur in Baden-Württemberg Facharztverträge auf Vollversorgungsbasis gibt. Die Bundespolitik ist daher gefordert, diese durch eine Anschubfinanzierung seitens der Krankenkassen zu fördern, damit deutlich mehr Patienten von den Vorteilen profitieren können. Der MEDI-Verbund hat hierzu dem BMG schon wiederholt gute Vorschläge unterbreitet.
Wie sieht ihr Fazit nach 10 Jahren aus?
Dr. Lembeck: Ich bin sehr zufrieden. Die regionalen Gestaltungsmöglichkeiten für Haus- und Facharztverträge auf Vollversorgungsbasis haben sich für Patienten und Ärzte mehr als bewährt. Sie haben die ambulante Versorgung nachhaltig verbessert und schreiben eine echte Erfolgsgeschichte. Die Vergütungsstruktur hat bereits vor 10 Jahren Honorarprobleme gelöst, für die in der Regelversorgung leider immer noch keine Lösungen vorliegen und die Fachärzte deshalb zu Protestmaßnahmen zwingt. Wir setzen weiter auf die Selektivverträge und sind überzeugt, für die zukünftigen Herausforderungen genauso bedarfsgerechte Lösungen zu finden, auch wenn die finanzielle Luft im Gesundheitswesen sehr viel dünner geworden ist.
Das Interview führte Michael Patzer.
Der Orthopädie-Vertrag in Zahlen für 2023
(Durchschnitt der 4 Quartale)
- Teilnehmende Orthopäden/ Unfallchirurgen/Chirurgen: 589
- Abgerechnete Patienten pro Quartal:
653 Versicherte - Vergütungssumme pro Quartal:
056.637 Euro - Schwerpunktdiagnosen:
Unspezifischer
Rückenschmerz: 51%
Gon- und Koxarthrose: 38 %
Spezifischer
Rückenschmerz: 36 %
Osteoporose: 9 %
Rheumatoide Gelenkerkrankungen: 4 %