Die Künstliche Intelligenz (KI) ist eines der populärsten Themen der Gegenwart. Der Nutzen der KI wird in verschiedensten Fachbereichen diskutiert. Gerade in der Medizin stellt KI ein höchst relevantes Thema für die Zukunft dar.
KI wird heutzutage mehrheitlich als Sammelbegriff für eine Vielzahl innovativer Technologien verwendet. Grundsätzlich beschreibt sie den Versuch, bestimmte menschliche Entscheidungsstrukturen nachzubilden. Maschinen und Computerprogramme mit Künstlicher Intelligenz enthalten Algorithmen, mit denen sie von selbst lernen und ihr Verhalten ohne menschliches Zutun anpassen können. In der Medizin entstehen dadurch völlig neue Behandlungsoptionen: Von Apps für die Früherkennung von Krankheiten bis hin zu personalisierten Therapien. Auch in der Orthopädie und Unfallchirurgie ist KI keine Fiktion mehr: Dieser Beitrag beleuchtet KI im Kontext der Orthopädie und Unfallchirurgie.
Obwohl die mathematischen Grundlagen in den 1950er-Jahren durch Prof. John McCarthy entwickelt wurden, konnte eine breitere Verwendung von KI in der medizinischen Forschung erst mit dem Zeitalter der Digitalisierung erreicht werden. Die technischen Möglichkeiten, große Datenmengen mit geringem Kostenaufwand zu speichern und mit starken Rechenkapazitäten zu verarbeiten, bilden das Fundament der Implementierung von KI für eine medizinische Nutzung.
Es stellt sich grundsätzlich die Frage, welche Bereiche in der Orthopädie und Unfallchirurgie von Anwendungen der KI zu humaner Intelligenz profitieren können. Insbesondere Bildanwendung eignen sich hervorragend für Anwendungen aus dem Bereich der KI, da Röntgenbilder, CT und MRT eine hohe Informationsdichte besitzen, die auch komplexere Algorithmen zulässt. Dementsprechend haben sich die Publikationen zur Auswertung radiologischer Daten mittels KI seit 2010 verzehnfacht.
Neben der Auswertung radiologischer Daten besteht allerdings für die Orthopädie und Unfallchirurgie noch Aufholbedarf. Insbesondere die Auswertung klinischer Daten in der Orthopädie und Unfallchirurgie wurde bisher nicht ausreichend untersucht. Dabei bieten sich solche KI-Anwendungen, die eine Vielzahl von Informationen verarbeiten und auswerten können, gerade in klinischen Entscheidungsprozessen an: Orthopäden müssen auf der Basis der Anamnese, Vorgeschichte, Voroperationen, klinischer Untersuchung, Bildgebung und vielem mehr exakte Diagnosen stellen, mögliche Therapieoptionen ableiten und schließlich die beste und maßgeschneiderte Option für den Patienten empfehlen. Eine Maschine kann eine solche Vielzahl an Daten umfänglicher und genauer verarbeiten. KI wird daher eine wesentliche Rolle spielen solch eine individuelle Behandlung oder Precision Medicine zukünftig in der klinischen Realität umsetzbar zu machen. Somit ergeben sich verschiedene Einsatzgebiete für KI-basierte Assistenzsysteme (Decision Support System).
KÜNSTLICHE INTELLIGENZ IN DER ORTHOPÄDIE
Die Digitalisierung ist nicht mehr aus der Medizin wegzudenken, jedoch stehen Orthopädie und Unfallchirurgie im Gegensatz zu anderen Fachdisziplinen noch am Anfang neuer Technologien. Dies gilt auch für KI. Obwohl die Potenziale und damit Forschungen auch im Bereich der Orthopädie und Unfallchirurgie weitreichend sind, gibt es derzeit nur wenige tatsächliche Anwendungsbereiche von KI außerhalb der radiologischen und pathologischen Bildgebung.
Der Einsatz von KI ermöglicht es, die Bildgebung prä-, intra- und postoperativ hinsichtlich Genauigkeit, Sicherheit und Geschwindigkeit zu optimieren. In diesem Kontext finden die derzeit verfügbaren Algorithmen beispielsweise in der Detektion von Frakturen und in der Längen- und Winkelbestimmung bei konventionellen Röntgenaufnahmen Anwendung. Darüber hinaus sind aktuelle KI-Lösungen ebenfalls in der Lage, Arthrosen und Implantate zu erkennen. Die Erkennung von Implantaten ist beispielsweise mithilfe des als Smartphone-Applikation verfügbaren “Implantate Identifier” möglich, welcher auf Basis von Röntgen Bildern aufgenommen über die Smartphone-Kamera eine sofortige Identifikation gängiger Hüften-, Schulter, Knie-, Ellenbogen-, Knöchel- und Wirbelsäulenimplantate ermöglicht. Ein weiteres Beispiel ist der Einsatz von KI-gestützten Segmentierungsalgorithmen, wodurch Gewebetypen in Schnittbildern unterschieden werden können.
„Damit KI langfristig Einzug in die Orthopädie und Unfallchirurgie findet, müssen strukturierte Datengrundlagen geschaffen werden um auch valide Ergebnisse zu ermöglichen.“
Dabei soll KI keineswegs den Orthopäden/Unfallchirurgen ersetzen. Die alleinige Entscheidungsgewalt durch den Computer ist weder gewollt noch absehbar. Es zeigt sich vielmehr ein Nutzen solcher KI-Anwendungen in der Ergänzung des Arztes. Somit kreiert man ein Zusammenspiel zwischen ärztlicher Expertise, Datenverarbeitung durch die KI und wiederum Kontrolle durch den Arzt. So konnte beispielsweise in einer Studie zu distalen Radiusfrakturen gezeigt werden, dass die supportive KI-Nutzung bei der Bildinterpretation die Fehlinterpretationsrate der befundenden Ärzte um ca. 47% senkte. In diesem Zusammenhang ist die ausschlaggebende Rolle der Datengrundlage zu nennen, auf dessen Basis die KI programmiert ist. Die KI-Anwendung ist nur so gut, wie die Daten mit der sie arbeitet. Es konnte bereits gezeigt werden, dass der gleiche Algorithmus mit unterschiedlichen Registerdaten vollkommen verschiedene Ergebnisse erzeugen kann. Der Orthopäde oder Unfallchirurg muss daher in der Lage sein, diese Ergebnisse einzuordnen und mit der eigenen klinischen Expertise vereinbar zu machen. Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Datenwissenschaftlern wird daher unersetzlich um das Potential von KI-Anwendungen nutzen zu können.
Ein weiteres Anwendungsgebiet ist die KI-basierte Analyse von Daten zur Mustererkennung. Die Vorhersage von unerwünschten Ereignissen durch die Anwendung von Machine Learning Applikationen auf der Basis umfänglicher Datenbanken wird die Medizin verändern und hat sich in der orthopädischen Forschung bereits als vielversprechend erwiesen. So konnten wir bereits in eigenen Arbeiten darlegen, dass die Verwendung spezifischer Daten zur Endoprothetik aus dem Endoprothesenregister und dem Endocert mittels Machine Learning die Vorhersage von Komplikationen und irregulärer OP-Dauer ermöglicht. Im Gegensatz zu klassischen klinischen Studien, in welchen lediglich ausgewählte Hypothesen getestet werden, können KI-gestützte Analysestrategien verschiedene Datentypen kombinieren und wesentlich flexibler auf eine Vielzahl multimodaler Daten reagieren. So können solche Anwendungen z. B. klinische Informationen mit Bilddaten gemeinsam auswerten. Dadurch können Zusammenhänge in manchen Gebieten sogar besser erkannt werden als durch das alleinige ärztliche Handeln. So konnten wir z. B. darstellen, dass die Verarbeitung von Bilddaten mit klinischen Informationen zu einer hochakkuraten Erkennung von Metastasen durch eine KI-Anwendung möglich ist. Ergänzend zum Einsatz bei der Bildgebung und der Datenanalyse wird KI zunehmend auch in Form von Operationsrobotern in der Gelenkchirurgie oder bei der Konzeption individualisierter Implantate eingesetzt.
Zum jetzigen Zeitpunkt ist leider noch weitgehend unklar, inwieweit solche Decision-Support-Systeme bei Hausärzten, niedergelassenen Orthopäden und Unfallchirurgen oder in Kliniken eingesetzt werden können. Perspektivisch könnten sie in der Orthopädie und Unfallchirurgie bei seltenen Erkrankungen oder bei häufigen, aber okkulten Pathologien, wie der Detektion chronischer Gelenkinstabilitäten, verwendet werden. Abseits der Bildanwendungen sind solche Systeme jedoch noch nicht für die klinische Nutzung verfügbar.
WAS KÖNNTE DARAUS ENTSTEHEN?
Damit KI langfristig Einzug in die Orthopädie und Unfallchirurgie findet, müssen strukturierte Datengrundlagen geschaffen werden um auch valide Ergebnisse zu ermöglichen. Das Klinikum Rechts der Isar München ist seit Jahren führend in der Forschung zum Thema Künstliche Intelligenz. Dabei wird versucht die wissenschaftlichen Erkenntnisse in den klinischen Alltag zu integrieren. So wird z. B. eine hochspezifische Datenbank zu periprothetischen Infektionen erstellt, die die Basis für KI-Anwendungen bildet. Anhand der multimodalen klinischen Daten (u. a. Infektboard-beschluss, Bildgebung, Mikrobiologie, Pathologie) soll ein Algorithmus als Decision-Support-System genutzt werden und z. B. Fragen beantworten wie: Wie hoch ist das Risiko, dass ein Implantatwechsel scheitert unter Berücksichtigung individueller Risikofaktoren? Erste Ergebnisse der diesbezüglichen KI-Anwendungen sind noch 2023 zu erwarten.
Neben solchen sehr speziellen Anwendungen an einer Universitätsklinik, werden im ambulanten Bereich Wearables, also mobile kleine Computer die am Körper getragen werden (z. B. eine Smartwatch), eine wichtige Rolle einnehmen. Mithilfe solcher Wearables können umfassende Datenmengen wie Bewegungsmuster aufgenommen werden, die gerade in der Orthopädie und Unfallchirurgie wertvoll sind. In einem Forschungsprojekt an unserem Standort konnte bereits gezeigt werden, dass die Verwendung der Daten der handelsüblichen Gesundheitsapplikationen auf dem Smartphone ausreichend sind um Aussagen zu treffen über das Laufmuster bis hin zur Identifikation der Person selbst. Die Vorhersage von unerwünschten Ereignissen oder die Erstellung von Prognosen auf der Basis solcher Wearable-Daten ist daher bereits in naher Zukunft vorstellbar.
FAZIT
Zusammenfassend gilt, dass der Einsatz von KI für die Orthopädie und Unfallchirurgie in Zukunft von nicht zu vernachlässigender Bedeutung sein wird und in diversen Bereichen eingesetzt werden kann. Zum Beispiel kann bei der Analyse von Symptomen, radiologischen Bildern, klinischen Datensätzen, der Verwendung in Klinik und im Operationssaal sowie für die Aus- und Weiterbildung die KI ein großes Hilfsmittel darstellen. Die Chancen für Patienten, Ärzteschaft und alle anderen Leistungserbringer im Gesundheitssystem, Kostenträger und auch für die Gesundheitspolitik sind dabei enorm. Im Vordergrund steht allseits eine optimierte und individualisierte Patientenversorgung (Precision Medicine). Ein großer Bedarf besteht insbesondere für KI-Anwendungen, die die klinische Expertise durch Vorhersagemodelle unterstützen.
Trotz vielfältiger Möglichkeiten und Vorteile sind derzeit kaum KI-basierte Anwendung in der klinischen Routine zu finden. Limitationen resultieren aktuell insbesondere aus der mangelnden Verfügbarkeit auswertbarer Gesundheitsdaten, welche die Grundlage für den Einsatz von KI darstellen. Um KI in den klinischen Orthopädie-Alltag integrieren zu können, sollte zukünftig also ein Fokus auf die Schaffung einer zielgerichteten Datenstruktur gelegt werden. Um das Potenzial von KI voll ausschöpfen zu können, sind umfassende klinische Datenmengen notwendig, die nur in einem multizentrischen Ansatz umzusetzen sind. Daher müssen Strukturen geschaffen werden, die diese Daten aufnehmen, aufarbeiten und zugänglich machen. Insbesondere in diesem Zusammenhang müssen auch ökonomischen, rechtlichen, politischen und ethischen Aspekten Rechnung getragen und Vertrauen geschaffen werden. Zukünftig sollten auf nationaler und internationaler Ebene kooperativ wissenschaftliche und wirtschaftliche Anstrengungen unternommen werden, um neue Anwendungen zu erforschen und in den Markt einzuführen.