Aufgrund der steigenden Lebenserwartung und dem damit einhergehenden demographischen Wandel wird der Bedarf an Rehabilitations-Behandlungen in absehbarer Zukunft stark ansteigen. Ein Beispiel für diesen Trend ist die physiotherapeutische Behandlung nach Erhalt einer Knie-Totalendoprothese (Knie-TEP). So gehen Modellrechnungen basierend auf dem Bevölkerungswachstum und der bisherigen Prävalenz von Knie-TEPs davon aus, dass die Anzahl an durchgeführten Eingriffen in einkommensstarken Ländern wie Deutschland weiter zunehmen wird. Weiterhin stoßen traditionelle Rehabilitationsverfahren, gerade in strukturschwachen Regionen, schon heute an ihre Grenzen. Deutlich zu sehen war das während den Hochphasen der aktuellen Covid-19-Pandemie, als der Kontakt zwischen Therapeut*in und Patient*in lächendeckend eingeschränkt war. Eine erhöhte Nachfrage nach neuartigen Reha-Angeboten ist die logische Konsequenz. Innovative Konzepte sind daher dringend notwendig, um die daraus resultierenden technischen, sozialen und ökonomischen Herausforderungen zu bewältigen.
In einem idealen Szenario kommen mehrere Faktoren zusammen: Einerseits sollte natürlich der Fokus auf den zu behandelnden Personen liegen. Ihnen sollte losgelöst von starren zeitlich und örtlich basierten Vorgaben sowie finanziellen Zwängen die optimale Versorgung geboten werden. Dies gilt insbesondere auch für Menschen in strukturschwachen Regionen. Dabei wäre eine Rehabilitation, die sich am individuellen Rehabilitationsfortschritt orientiert, wünschenswert. Gleichzeitig ist die Belastung für das medizinische Personal so gering wie möglich zu halten. Das lässt sich z.B. dadurch erreichen, dass die Übungen größtenteils selbstständig ausgeführt werden und dem/der Therapeut*in nur noch relevante Ergebnisse zur Verfügung gestellt werden. Diese Anforderungen werden dadurch ergänzt, dass die Kosten der Behandlung so gering wie möglich sind, um die finanzielle Belastung für das Gesundheitssystem auf ein Minimum zu beschränken. Um dieser Liste an teilweise widersprüchlichen Anforderungen gerecht zu werden, sind neuartige Rehabilitationsverfahren notwendig.
Die Unterstützung der Rehabilitation durch technische Hilfsmittel verspricht dabei ein vielversprechender Ansatz zu sein. Gerade die aktuellen technologischen Fortschritte in den Bereichen Sensorik, virtuelle Menschmodellierung und KI-basierter Algorithmik ermöglichen neuartige Ansätze.
Moderne Motion Capture Systeme ermöglichen die Aufnahme von Bewegungen, ohne die Notwendigkeit reflektierende Marker an der Testperson zu befestigen (Abb. 1a und b). Teils arbeiten die Systeme mit Sensoren, die sich einfacher befestigen und wieder abnehmen lassen. Darüber hinaus gibt es auch vermehrt kamerabasierte Systeme, die ohne jegliche Art von Sensoren oder Markern auskommen. Die einzige Voraussetzung dabei ist, dass sich die Testpersonen im Aufnahmebereich der Kameras, dem sogenannten Messvolumen, befinden. Damit ist es möglich, in sehr kurzer Zeit verschiedene Bewegungen einer großen Anzahl an Personen aufzunehmen. Das heißt, es können ohne nennenswerten Aufwand sehr große Datenmengen von vielen Personen erhoben werden. Weiterhin ist wenig technisches Know-how notwendig, um diese Systeme zu bedienen und damit Aufnahmen durchzuführen. Es muss also kein speziell geschultes Personal vor Ort sein. Somit ermöglicht sich der Einsatz solcher Systeme auch außerhalb von Forschungseinrichtungen beispielweise in Arztpraxen, Krankenhäusern oder anderweitigen Gesundheitseinrichtungen. Die Genauigkeit dieser markerlosen Systeme ist zwar etwas geringer im Vergleich zum Laborstandard, doch für viele biomechanische Fragestellungen sind die erzielten Genauigkeiten ausreichend und der bereits erwähnte verringerte Aufwand rechtfertigt den Einsatz dieser Systeme.
Moderne virtuelle Modelle des menschlichen Bewegungsapparats sind das zweite Standbein dieser Art von Verfahren zur Unterstützung der Rehabilitation (Abb. 1c). Diese teils sehr komplexen Modelle haben in den letzten Jahren einen sehr hohen Detailierungsgrad erreicht und werden in vielen Grundlagenforschungsprojekten
angewendet. Die Modelle ermöglichen es, von der aufgezeichneten Bewegung auf die internen Belastungen zu schließen. Aus der reinen Betrachtung der Bewegung wird somit auch eine Betrachtung der dabei wirkenden Kräfte. Eine Vielzahl an weiteren Parametern, die dem bloßen Auge verborgen sind, können dadurch nun zusätzlich zur Bewertung von Bewegungen und Übungen herangezogen werden. Dazu zählen unter anderem Gelenkreaktionskräfte, Muskelkräfte und Muskelaktivitäten. Damit werden dem/der Therapeut*in eine Vielzahl an Parametern zur individuellen Steuerung der Rehabilitation zur Verfügung gestellt.
Dabei werden jedoch meistens deutlich mehr Daten erzeugt, als für den konkreten Anwendungsfall notwendig sind. In einem letzten Schritt braucht es nun also Algorithmen, die dabei helfen, die Flut an Daten aus den Modellen zu reduzieren und zu interpretieren. Ziel dieser Auswertungen ist es, die großen Datenmengen auf wenige aussagekräftige Parameter herunterzubrechen. Dabei kommen unter anderem auch vermehrt Techniken aus den Bereichen Künstliche Intelligenz und Maschinelles Lernen zur Anwendung. Weiterhin wird daran gearbeitet, die relevanten Größen mit reduzierten Messsystemen zu erfassen. Dazu zählen kleine tragbare Sensoren, die Sensoren in Smartphones und Smartwatches (sogenannten Smart Wearables) oder auch einfach Webcams und Smartphone Kameras. Damit lassen sich die relevanten Parameter jederzeit und ohne großen Aufwand im Alltag erfassen. Durch eine bereits zuvor entwickelte Logik kann dann von den reduzierten Daten direkt auf die relevanten internen biomechanischen Größen geschlossen werden. Die virtuellen Ganzkörpermodelle können in diesem Fall bereits im Vorfeld berechnet werden und die Sensordaten werden im Nachhinein einem Modell zugeordnet. Somit fällt in der Anwendung der Systeme die Berechnungszeit der Modelle weg. Dies ermöglicht eine Bewertung auf Echtzeitbasis. Das erlaubt es dem/der Anwender*in Livefeedback zur Ausführung der Übungen zu geben. Gegebenenfalls kann dann ein Hinweis oder Korrekturvorschlag gegeben werden, falls eine fehlerhafte Ausführung erkannt wird. In Abbildung 2 ist dargestellt, wie das Zusammenspiel aus Sensor und Livefeedback beispielsweise implementiert werden kann.
Im Zusammenspiel erlauben diese Entwicklungen somit die Erfüllung der eingangs aufgestellten Anforderungen. Ausgestattet mit derartigen Systemen, können die Rehabilitationsübungen größtenteils selbstständig von zu Hause aus durchgeführt werden. Durch die dabei stattfindende kontinuierliche Überwachung kann direkt Feedback zur Ausführung der Übungen gegeben werden. Durch die Aufzeichnung der Bewegungen und Auswertung der Daten kann der Verlauf der Rehabilitation individuell abgestimmt werden. Gleichzeitig nehmen die technischen Hilfsmittel dem therapeutischen Fachpersonal viel Arbeit ab, da die wichtigsten Parameter zur Bewertung der Rehabilitation bereits in aufbereiteter Form zur Verfügung gestellt werden. Durch den geringeren zeitlichen Aufwand für Patient*in und Therapeut*in kann zusätzlich ein finanzieller Vorteil im Vergleich zu traditionellen Rehabilitationsverfahren erzielt werden.
Im Labor für Biomechanik an der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg wird aktuell an der Entwicklung derartiger Konzepte gearbeitet. Im Rahmen eines durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projektes (Förderkennzeichen: 13GW0558E) wird an der Entwicklung eines digitalen Nachbehandlungssystems nach Kniegelenksersatz mitgewirkt. Das geplante System besteht aus einem kleinen tragbaren Sensor, einer Smartphone-App sowie einer interaktiven Plattform für die Datenauswertung und Kommunikation. Die Vision ist einen individuell angepassten Rehabilitationsprozess zeitlich und räumlich unabhängig von Versorgungseinrichtungen und Personenkontakten zu ermöglichen.
Der am Körper befestigte Sensor soll die Bewegungen des/der Patient*in aufzeichnen. Dies geschieht zum einen während Alltagsbewegungen, z.B. dem Hinauf-/Hinabgehen einer Treppe oder dem Aufstehen von einem Stuhl. Weiterhin soll die Bewegungsaufzeichnung auch während der physiotherapeutischen Übungen, die im Rahmen der Rehabilitation erfolgen, stattfinden. Mittels den virtuellen Ganzkörpermodellen können dabei die im Körper intern auftretenden Kräfte bestimmt werden. Anhand der Bewegungsaufzeichnungen und Kräfte können die motorischen Fähigkeiten der Personen beurteilt werden. Daraus ergibt sich ein individuell angepasster Trainingsplan mit situativ gewählten Übungen, der über die App zur Verfügung gestellt werden kann. Mittels der interaktiven Plattform kann der/die Therapeut*in den Fortschritt überwachen und zu jedem Zeitpunkt in die Behandlung eingreifen.
Die große Stärke dieses und ähnlicher Konzepte liegt auch in ihrer vielfältigen Einsatzmöglichkeit. Die Anwendung in der Rehabilitation nach Erhalt einer Knie-TEP ist nur eines von vielen denkbaren Szenarien. Das grundsätzliche Konzept kann auch auf andere Rehabilitationsszenarien, wie beispielsweise eine Hüft-Endoprothese, übertragen werden. Aber auch Anwendungen in gänzlich anderen Bereichen sind denkbar. So bietet sich in der ergonomischen Bewertung von Arbeitsplätzen ebenfalls ein enormes Potential. Auch hier kann eine Bewertung mittels vieler einfach zu erstellenden Bewegungsaufnahmen und darauf basierenden biomechanischen Berechnungen erfolgen. Somit wird Technologie, die bis vor kurzem nur im Grundlagenforschungsbereich verwendet werden konnte für viele Anwendungsszenarien nutzbar gemacht und es können verschiedenste medizinische, ergonomische und sportwissenschaftliche Fragestellung mit diesen Konzepten bearbeitet werden.