Berlin – Ein Praxissitz darf in der Regel nicht von einem schlecht versorgten Stadtteil oder Bezirk in einen mit formal sehr hoher Überversorgung verlegt werden. Auf diese Entscheidung des Bundessozialgerichts (Az: B 6 KA 31/15 R) hat die Kassenärztliche Vereinigung (KV) Berlin hingewiesen. Sie sieht damit ihre Rechtsauffassung bestätigt. Eine Psychotherapeutin hatte dagegen geklagt. Das Urteil hat aber auch für andere Fachgruppen Bedeutung.
Ein „Letter of Intent“ des Gemeinsamen Landesgremiums in Berlin empfiehlt seit dem Jahr 2013 ein solches Vorgehen. Mit dem GKV-Versorgungsstrukturgesetz hatte die schwarz-gelbe Koalition 2012 auf Drängen der Bundesländer die Möglichkeit geschaffen, Landesgremien einzurichten, in denen die Vertreter der Selbstverwaltung in erster Linie Empfehlungen zu sektorenübergreifenden Versorgungsfragen in den Regionen abgeben können, aber nicht müssen.
Kritik: schwierige Arbeit lieber besser bezahlen
In Berlin wurden nach Angaben der KV mittlerweile in mehr als 180 Fällen Vertragsarztsitze und Vertragspsychotherapeutensitze in schlechter versorgte Verwaltungsbezirke verlegt. Diese Steuerung war von Anfang an umstritten, nicht nur wegen juristischer Aspekte. Viele Fachleute sind der Auffassung, dass man Ärztinnen und Ärzte, die sich in Bezirken mit einer schwierigen Sozialstruktur niedergelassen haben, lieber besser honorieren und ihre Arbeit durch kommunale Zusatzangebote unterstützen solle, statt ihnen einen Umzug zu verbieten.
Der Vorstand der KV Berlin, Dr. med. Uwe Kraffel, hatte seinerzeit erläutert, der Zulassungsausschuss sei sowieso nach der Zulassungsverordnung für Ärzte verpflichtet zu prüfen, ob Erfordernisse der vertragsärztlichen Versorgung einer Praxisverlegung entgegenstehen. Bereits seit 2012 lasse er deshalb Umzüge in gut versorgte Bezirke nicht mehr zu. Den Umzug der klagenden Psychotherapeutin hatte der Zulassungsausschuss versagt mit dem Hinweis, der psychotherapeutische Versorgungsgrad betrage in Berlin-Neukölln nur 87,7 Prozent, in Tempelhof-Schöneberg aber 344 Prozent.
NAV: Berufsfreiheit wird massiv eingeschränkt
Der Vorsitzende der Landesgruppe Berlin/Brandenburg des NAV-Virchow-Bundes, Dipl.-Med. Mathias Coordt, kritisierte die Haltung der KV. Sie gehe „mit einer immer härteren Gangart gegen die eigenen Kollegen vor“, so Coordt. „Die KV-Spitze unterstützt einen fragwürdigen Kurs und nimmt dabei in Kauf, dass die Berufsfreiheit der niedergelassenen Ärzte massiv eingeschränkt wird.“
Das BSG-Urteil, nach dem eine Psychotherapeutin ihre Praxis trotz guter Verkehrsanbindungen nicht von Neukölln ins benachbarte Tempelhof-Schöneberg verlegen dürfe, zeige einmal mehr die grundsätzliche Problematik, so der NAV-Landesgruppenchef: „Die Stadtbezirke sind keine geeignete Abgrenzung für die Beurteilung der Versorgungslage.“ Er forderte die KV deshalb auf, eine Bedarfsplanung auf den Weg zu bringen, die die tatsächliche Versorgungssituation, den Versorgungsbedarf, die tatsächliche Inanspruchnahme und die zukünftige soziodemografische Entwicklung der Bevölkerung abbilde.
Sabine Rieser
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